Transformationsfelder
von Jennifer Bork
Enrico Niemann hat 2007 an der Bauhaus Universität in Weimar sein Studium der freien Kunst abgeschlossen. Gut, dass es nicht 10 Jahre eher war. Denn, nach dem Befreiungs- schlag der abstrakten, avantgardistischen Strömungen des frühen 20. Jahrhunderts, der auch maßgeblich vom BAUHAUS mit Lehrern wie Kandinsky, Klee und Moholy-Nagy ausgegangen war, bestand ein ambivalentes Verhältnis zur Abstraktion. Dieses hat sich bis in die Gegenwart durchgezogen: „Nachdem vor 10 Jahren nichts uncooler war als abstrakte Kunst und die Protagonisten der Szene in ihrer Nische höchstens ein Spezial- und Liebhaberpublikum ansprachen, gibt es heute kaum ein Ausstellungs- und Galerieprogramm, das ohne die obligatorischen Abstraktpositionen auskommt“, schrieb Sven Drühl 2011 in Kunstforum International.
Doch ich bezweifle stark, dass die Gefahr uncool zu sein oder ein Nischendasein zu führen Enrico Niemann davon abgehalten hätte, auch vor 10 oder 15 Jahren schon ähnliche Themen seiner heutigen Bilder anzugehen. Zu sehr interessiert wirkt er an den Eigenschaften des Materials seiner „Gemälde", die über das bloße Bild weit hinausgehen. So sehr, dass man sich einen anderen Gegenstand als den der Technik selbst für seine Bilder kaum vorstellen kann. Geradezu erfinderisch gestaltet sich der Produktionsprozess: Bei meinem Besuch in seinem Berliner Atelier liegt eine der Arbeiten waagerecht auf dem Tisch, dünne Folienbahnen sind immer wieder übereinander geschichtet worden und schon über und über mit Acrylfarbe bedeck. Die Farbe bildet dünne Rinnsale, Schlieren und Strukturen, die teilweise getrocknet sind oder noch feucht glänzen. Die gesamte Fläche besteht aus verschiedenen Ebenen - fast wie auf einer dreidimensionalen Landkarte bilden sich immer wieder Erhöhungen und Vertiefungen. Abbau- und Aufbauprozesse bestimmen dieses Farbgefüge, in einem der Täler aus gepresster Folie steht eine Lache aus blauer Farbe.
Die Techniken, die Enrico Niemann verwendet, sind höchstens angelehnt an Verfahren wie das der Décalcomanie, das diese amorphen Zufallsstrukturen hervorbringt. Als Surrealist hat Max Ernst diese Abklatschtechnik häufig verwendet um eigentlich unabbildbare Traumlandschaften darstellen zu können. Enrico Niemanns Technik, seine Materialien wie Acrylfarbe, Folien und Harze verankern seine Arbeiten zu sehr im Hier und Jetzt als dass sie eine direkte Linie erkennen lassen würden und doch verbindet die Werke beider Künstler neben der Lust am Experiment noch etwas anderes: Das Aufbrechen des Bildraumes. Während dies in der surrealistischen Malerei oft mit einer spirituellen Erweiterung und einem langsamen Versinken einhergeht, ja die Erweiterung des Bildraumes quasi zur Bewusstseinserweiterung wird, streben die neuen Arbeiten von Enrico Niemann viel schneller, fast explosiv, nach außen. Die Bewegungen des Produktionsprozesses, das Tröpfeln, Gießen, Fließen der Farbe erscheint auf der Rezeptionsebene zigfach potenziert.
Durch die entstehenden Formen, die Schollen und Scherben entwickeln die Arbeiten eine eigene Materialität, eine Körperlichkeit. Scheinbare Materialfehler, Imperfektionen wie Bläschen und Risse fragmentieren unseren Blick und beleben ihn damit. Der Körper des Betrachters kommt selbst in Bewegung: Er tritt näher heran, tritt zurück, legt den Kopf schief, um die einzelnen Spiegelungen und Brechungen des Lichts genauer betrachten zu können, geht in die Knie um das Spiel mit der Oberflächenstruktur zu ergründen, wandert mit dem Blick weiter um das einzelne Bild im Zusammenspiel mit den anderen Arbeiten der Serie zu sehen. Ähnlich wie die Lichtbrechung auf benzin- und ölhaltigen Wasseroberflächen changiert die Farbwirkung und der Blick springt. Der Bildraum wird aufgesprengt, fast erscheinen Enrico Niemanns Arbeiten flüssig und fest zugleich.
Nicht nur durch ihre Präsentation mit den ungeglätteten, gegeneinander verschobenen Kanten, wirken sie daher wie Fragmente, wie rausgerissen aus einem größeren Zusam- menhang. Der lateinische Ursprung des Wortes Fragment ist frangere: brechen. Diesen Bruch setzt Enrico Niemann in seinen neuen Arbeiten als Stilmittel ein. Denn die Zufallsstrukturen, die Fraktalen ähnlich sehen und oft zum näher Herantreten verleiten, deuten ein Interesse an den Prinzipien von Ordnung und Chaos in Enrico Niemanns Werk an. So bricht der Künstler die entstandenen Formen immer wieder durch subversive Eingriffe, die da am deutlichsten sind, wo die Zufallsstrukturen auf strenge Muster, Grids oder geome- trisch begrenzte Flächen treffen. Der Eingriff verdeutlicht den Zusammenfall von Ordnung und Chaos. Auch die nicht deterministisch entstandene Form fügt sich immer wieder in eine Struktur, Chaos und Ordnung sind keine Gegensätze. Die Décalcomanie, bei der die flüssige Farbe quasi gepresst wird bevor sie vom Bildträger abgenommen wird, bringt sehr oft Fraktale hervor, eine mathematische Figur, deren gleichförmige Struktur bis ins Unendliche geht.
Es ist diese Gleichzeitigkeit von Ordnung und Chaos, die auch Enrico Niemanns Werken ihren Reiz verleiht. „Transformationsfelder“ heißt die Ausstellung der neuen Arbeiten und es ist gerade dieser Schwebezustand, der Augenblick des Wandels, ohne ihn vollzogen zu haben, der diese Gleichzeitigkeit am prägnantesten verdeutlicht und die Wechselspannung zwischen scheinbaren Gegensätzen aufrecht erhält. Enrico Niemann erschafft eine elektrisierende Wirkung, ohne jedoch in eine Überwältigungsstrategie abzugleiten. Frei vom Anspruch noch revolutionär sein zu müssen baut er sich eine eigene, leisere, wunderschöne Nische in der neuen Abstraktion.
Jennifer Bork, Kunstverein Wolfsburg, 2017
Vita / CV
1978 geboren in Bad Saarow, lebt und arbeitet in Berlin
2001-07 Studium Freie Kunst, Bauhaus Universität Weimar
Stipendien
2014
Residenz Künstlerhaus Schloss Wiepersdorf, Stipendium Land Brandenburg
2007/08
Graduiertenstipendium der Bauhaus-Uni Weimar und des Freistaates Thüringen
2005
DAAD Reise Förderung für Tokio
Einzelausstellungen
2021
Enrico Niemann, im Rahmen von "Akutsprechstunde", Axel Obiger, Berlin
2020
Space and Surface, mit Susanne Hofer, Axel Obiger, Berlin
2019
Supergrid, Superbien, Milchhof, Berlin Gravity and Surface Tension, Galerie Artae, Leipzig
2018
Farbfluidum, mit Elisabeth Sonneck, Axel Obiger, Berlin
2017
Transformationsfelder, Galerie Artae, Leipzig Summer | Shift, Axel Obiger, Berlin
2016
Ueberschicht, mit Christoph Bangert, Axel Obiger, Berlin
2015
andere Gegebenheiten, Galerie Artae, Leipzig
à vue, mit Sandrine Mahéo, Axel Obiger, Berlin
2014
antimuster, OCA-Galerie, Berlin
leicht bis mehr farbig, mit Ludwig Bräutigam, Axel Obiger, Berlin
2013
front side / back side, Galerie Artae, Leipzig
2010
Verhäutet - Gefaltet, Galerie Artae, Leipzig
2007
Intercarnation, Galerie Artae, Leipzig
2006
Hotel-Rouge, Artbuero, Berlin
Ausstellungsbeteilugungen (Auswahl)
2022
BY EAR Part 1, Tiger Strikes Asteroid, Los Angeles USA
un-structured, kuratiert von Daniela von Damaros, mit Harriet Groß, Sarah Loibl, Keren Shalev, Axel Obiger, Berlin
2021
POSITIONS Berlin, Flughafen Tempelhof, Berlin
2020
AMORPH, mit M. Bause, P. Hock, G. Künne, E. Niemann, Galerie im Saalbau, Berlin
Paper on Paper, online Project in cooperation with PAPER Manchester GB, Axel Obiger
2019
Almost Sparkling, B-l.a.connect @ Axel Obiger, Berlin Trans it, Kingsbury Texas 78638, USA um die Häuser ziehen, Axel Obiger, Berlin
2018
Schnelle Vorbeifahrten, Open-Air Parcours, Paulinenaue
"100", Axel Obiger, Berlin
IMPORT I EXPORT, produzentengalerie dresden, Dresden
CO/LAB III, Torrance Art Museum, Los Angeles, USA
Enzyklopädie des Zarten, Galerie im Körnerpark, Berlin
2017
Summer - Sift, Axel Obiger, Berlin (e)
Transformationsfelder, Galerie Artae, Leipzig
Boden, Axel Obiger, Berlin
2016
Konstruktion - Spekulation, Zwitschermaschine Berlin
2015
Sammlung | to be continued, Axel Obiger, Berlin
2014
Die Feier, Axel Obiger, Berlin
2013
Eigenwilligkeit, Museum Junge Kunst, Frankfurt/O. (Katalog)
20. Leipziger Jahresausstellung, Westwerk, Leipzig (Katalog)
2012
Flashback, Galerie Artae, Leipzig
2011
Case Studies, Freies Museum, Berlin
2010
Chroma, Bauhaus-Universität, Weimar (Katalog)
Spleendid View, Universal Cube, Baumwollspinnerei, Leipzig
Art Karlsruhe, Galerie Pack of Patches
2009
POP OUT: Copenhagen, Warehouse 9, Kopenhagen
2008
Ostrale 08, Dresden
Utopie der Raumes, Kyrgyz National Museum of Fine Arts, Bishkek, Kyrgyz Republik
Zerreißen und Zunaehen hat seine Zeit, Kunsthaus, Erfurt
2007
Kunststudenten stellen aus, Bundeskunsthalle, Bonn (Katalog)
2005
Die entblößte Farbe Rosa, Museum of the National University of Fine Arts, Tokyo, Japan (Katalog Hatje-Cantz)